"Nun kann niemand mehr sagen, was geht Dich das an?"

22.11.1999

So titelte die türkische Zeitung Milliyet in einer Schlagzeile am Tag nach der Unterzeichnung der Abschlußresultion des OSZE - Gipfels in Istanbul. Damit wurde eine Aussage des amtierenden Staatspräsidenten der Türkischen Republik, Süleyman Demirel zitiert, die er nach Bekanntwerden der Abschlußresolution gegenüber der Presse geäußert haben soll. Es meint die Formel, dass sich kein Mitgliedstaat der OSZE gegenüber den anderen Mitgliedstaaten mehr auf die Formel "Keine Duldung von Einmischung in innere Angelegenheiten" zurückziehen kann, wenn auf seinem Boden Verletzungen des Völkerrechts und der Menschenrechte geschehen und diese international in Kritik geraten. Diese Aussage zielt nachträglich auf die internationale Vorgehensweise im Kosovoproblem und den aktuellen Entwicklungen in der Kaukasusrepublik Tschetschenien ab. Doch wie verhält es sich im Fall des Nato- und OSZE-Mitgliedes Türkei?
Noch immer ist die kurdische Frage ungelöst, weshalb allein in den letzten 15 Jahren des türkisch-kurdischen Konflikts mehr als 40.000 Menschen Ihr Leben verloren haben. Immer noch hat sich die Menschenrechtssituation in der Türkei nicht grundlegend geändert. Immer noch sind Repression und Vertreibung traurige Realität. Und auch weiterhin bleibt die offene Meinungsäußerung ein teuerer Luxus, der unter Umständen mit hohen Haftstrafen bezahlt werden muß. Sind das nicht auch Probleme, die das Engagement der internationalen Staatengemeinschaft erfordern? Selbst Süleyman Demirel hat das mit seiner Aussage indirekt bestätigt.
Dies Teil eines Prozesses, der mit der Verhaftung des Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, seinen Anfang nahm. Nach ersten Irritationen in weiten Teilen der Weltöffentlichkeit über die Ausführungen Öcalans im Prozeß auf Imrali scheint die Zustimmung zu seinen Lösungsvorschlägen für die kurdische Frage international zu wachsen. Mehrmals betonte er den Willen zu einer friedlichen und demokratischen Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts. Mit der Einstellung des militärischen Kampfes und dem Rückzug ihrer bewaffneten Kräfte vom Staatsgebiet der Türkei vollzog die PKK einen wichtigen Schritt hin zu einer zivilen Konfliktlösung und signalisierte ihre volle Unterstützung zu dem von Öcalan geforderten strategischen Wandel. Immer mehr bestimmen Diskussionen über eine umfassende Demokratisierung der Türkischen Republik das politische Leben der Türkei.
Am 25. November wird der oberste Kassationsgerichtshof der Türkei über den Fall Öcalan endgültig entscheiden. Es steht zu befürchten, dass das ausgesprochene Todesurteil bestätigt wird. Dies würde jedoch den sich abzeichnenden Friedensprozess massiv beeinträchtigen. Die internationale Staatengemeinschaft ist gefordert, alles zu tun, um eine friedliche und politische Lösung zu ermöglichen. In ihren Bemühungen um Aufnahme in die Europäische Union ist sich die Türkei der Notwendigkeit einer grundlegenden Veränderung durchaus bewußt.
Es liegt nun besonders an der Europäischen Union, darauf einzuwirken, dass den Lippenbekenntnissen endlich Taten folgen. Ein nachdrücklicher Einsatz für die Aufhebung der Todesstrafe und die Schaffung allgemeiner demokratischer Standards in der Türkei entspricht den dringendsten an die internationale Staatengemeinschaft gerichteten humanitären Erwartungen. Denn auch sie muß sich an den Maßstäben messen lassen, die sie selbst definiert und zu deren Einhaltung sie sich verpflichtet hat.

Nein zur Todesstrafe - Frieden jetzt!