Internationale Initiative
»Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«
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15. Februar 2012

Politische Lösung oder totalitäre Türkei?

Erklärung der Internationalen Initiative anlässlich des 13. Jahrestags der illegalen Entführung Abdullah Öcalans am 15. Februar 1999

13 Jahre nach der Entführung Abdullah Öcalans in einer illegalen internationalen Geheimdienstoperation ist der öffentliche Diskurs einen großen Schritt weiter. Kurden sind noch immer empört über die internationale Intrige, die zu seiner Verschleppung aus Kenia führte. Doch Öcalan ist es gelungen, die Aufmerksamkeit immer weiter auf das zugrunde liegende Problem zu lenken: die kurdische Frage und die Notwendigkeit, sie zu lösen. Heute stellt sich die Frage: wird es eine politische Lösung geben, oder wird die Türkei zu einem totalitären Regime?

Es liegt auf der Hand, welche dieser Alternativen im Interesse der Völker der Türkei liegt. Nach beinahe 30 Jahren des bewaffneten Konflikts, dem Tod von geschätzt 40.000 Menschen – die meisten von ihnen Kurden –, dem Bankrott großer Teile des politischen Systems der Türkei und der Renaissance der lange unterdrückten kurdischen Kultur ist die Zeit reif, den Konflikt auf friedliche Weise zu lösen.

Seit 1999 haben wir zu direkten Gesprächen mit Abdullah Öcalan aufgerufen. Heute wissen wir, dass solche Gespräche tatsächlich fünf Jahre lang geführt wurden. Immer wieder haben wir um des Friedens willen seine Freilassung gefordert. Wir wurden dafür oft kritisiert, denn dies schien illusorisch und utopisch. Heute wissen wir, dass es ein – bisher nicht umgesetztes – Abkommen mit staatlichen Funktionsträgern gab, ihn als ersten Schritt zur Freilassung unter Hausarrest zu stellen.

In den letzten zwölf Monaten kam eine beispiellose Fülle an Geheiminformationen an die Öffentlichkeit. Darunter waren zahlreiche sensible Details über die Geheimgespräche zwischen Abdullah Öcalan, Vertretern des türkischen Staats und Führern der illegalisierten Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans (KCK). Aus diesen Informationen lässt sich ersehen, dass die Gespräche bereits weit fortgeschritten waren. Selbst ein weit reichendes „Dokument des gegenseitigen Einverständnisses“ war bereits zwischen den Parteien unterzeichnet worden.

Der Hauptgrund, warum eine Verhandlungslösung bereits in Reichweite gelangte, waren Öcalans unermüdliche Bestrebungen, konstruktiv zu handeln und realistische Vorschläge zu unterbreiten. 2009 präsentierte er seinen Standpunkt in Form einer buchlangen „Road Map für Verhandlungen“. Daraufhin wurden die Gespräche intensiviert und Diskussionen über praktische Schritte begannen. Dieses wichtige Dokument liegt bereits auf Englisch als „The Road Map for Negotiations“ vor und wird bald auch auf Deutsch erscheinen.

Doch die Gespräche scheiterten im Juli 2011, weil die Regierung sich weigerte, die bereits vereinbarten Schritte umzusetzen. In einer ironischen Volte wurden die Vertreter, welche die Verhandlungen im Namen des Staates führten, nun vor den Staatsanwalt zitiere. Anstatt ihren Einsatz für den Frieden zu würdigen, droht ihnen Strafverfolgung. Gleichzeitig wurden der Presse Informationen über die Inhalte der Gespräche in einer Weise zugespielt, die Empörung verursachen sollte. Die staatlichen Vertreter müssen sich nun fragen lassen: „Wie konntet Ihr derartige Dinge überhaupt diskutieren?“

Die „derartigen Dinge“ sind natürlich die Grundzüge einer politischen, friedlichen und demokratischen Verhandlungslösung der kurdischen Frage in der Türkei, die so viel Leid verursacht hat, insbesondere für die Kurden. Die Fortsetzung des Konflikts wird unweigerliche noch mehr Leid und Blutvergießen verursachen.

Leid und Blutvergießen waren bereits die unmittelbare Folge des Scheiterns der Gespräche. Ministerpräsident Erdoğan setzte auf eine militärische Lösung – die er bis dahin abgelehnt hatte – und startete Militäroperationen gegen die Guerilla, welche einen lang andauernden, einseitigen Waffenstillstand eingehalten hatte. Es folgten Gräuel wie das Massaker an 35 Zivilisten, die nach der Bombardierung durch die türkische Luftwaffe starben. Dies könnte nur der Vorbote für Kommendes gewesen sein. Momentan verhindert allein der Winter eine unmittelbare weitere Eskalation der Kämpfe.

Seit Erdoğans Kriegsbeschluss sind Öcalan und die anderen fünf Gefangenen auf der Insel Imrali komplett von der Außenwelt isoliert. Seit dem 27. Juli 2011 hat nicht ein einziger Besuch von Anwälten auf der Insel stattgefunden. Statt dessen wurden im November alle Anwältinnen und Anwälte, die in den letzten Jahren auf die Insel gefahren waren, verhaftet. Dies stellt den größten Angriff auf Anwälte in der Geschichte der Türkei dar. Zum jetzigen Zeitpunkt ist Öcalans unmenschliche Isolation auf Imrali, dem „europäischen Guantanamo“, intensiver als je zuvor während seiner 13-jährigen Haft.

All dies ist wohl bekannt, doch der Rest der Welt schweigt über Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Der Westen ist auf Syrien fixiert und gratuliert der Türkei wegen ihrer Unterstützung für die Aufständischen. Im Gegenzug hält der Westen bemerkenswert still in Bezug auf die größten Massenverhaftungen von Mitgliedern der politischen Opposition seit dem Militärputsch von 1980. Tausende und Abertausende füllen die türkischen Gefängnisse. Vorgeworfen wird ihnen „Terrorismus“, der sich bei näherem Hinsehen als legale politische Aktivitäten zur friedlichen Lösung der kurdischen Frage entpuppt. Die Vorwürfe gegen die staatlichen Vertreter, welche die Gespräche mit Öcalan und der KCK geführt haben, folgen der selben Logik. Wer immer sich um Frieden und Konfliktlösung bemüht, ist Feind der Kriegstreiber, die einmal mehr bewiesen haben, dass sie noch immer enormen Einfluss in der Türkei besitzen.

Die Türkei steht nun vor zwei klaren Alternativen: Auf der einen Seite stehen die Kriegstreiber, die sich eine Fortsetzung des Konflikts wünschen und die unmittelbare Gefahr eines Bürgerkriegs in der Türkei riskieren. Unter ihnen sind machthungrige Prediger und Politiker, Teile des Militärs und türkische Nationalisten. Auf der anderen Seite stehen das kurdische Volk mit mehr als 6000 neuen politischen Gefangenen seit 2009 und alle friedliebenden Menschen der Türkei. Die eine Alternative ist die Fortsetzung des Konflikts, der die Türkei immer weiter in Richtung Autoritarismus, Totalitarismus und Bürgerkrieg treiben wird. Die andere Alternative ist die Lösung der kurdischen Frage, die zu Frieden und einer demokratischen Zukunft für alle führen wird.

Die Kurden sind desillusioniert und wütend. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Situation ein hohes Potenzial für die Eskalation des bewaffneten Konflikts besitzt. Doch sie besitzt ebenfalls ein großes Potenzial für die Demokratisierung der Türkei und eine Lösung der kurdischen Frage. Diese Chance darf nicht verspielt werden. Die türkische Regierung sollte daher umgehend die Verhandlungen wieder aufnehmen.

Doch dies wird nicht von selbst geschehen. Die Fortsetzung der Verhandlungen bedarf der Unterstützung aller Kräfte, denen an einer Demokratisierung der Türkei und der Region gelegen ist. Die Kurden haben ihre Entscheidung getroffen und ihre Bereitschaft zu Verhandlungen unter Beweis gestellt. Jetzt müssen sich alle anderen entscheiden, was sie wollen: eine politische Lösung oder eine totalitäre Türkei? Die Wahl sollte nicht allzu schwer fallen.


Erstunterzeichner der Internationalen Initiatve:

Mairead Maguire (Friedens­no­belpreis, Irland), Dario Fo (Lite­raturnobelpreis, Italien), Adolfo Perez Esquivel (Lite­ra­tur­no­bel­preis, Argenti­ni­en), José Ramos-Horta (Frie­dens­no­bel­preis Ost­timor), José Saramago (Lite­ra­turno­bel­preis Portugal), Danielle Mitterrand (Stiftung France Liberté, Frank­reich), Ramsey Clark (ehem. Justiz­minister, USA), Uri Avnery (Gush Sha­lom, Israel), Noam Chomsky (Lin­guist, Publizist, MIT, USA), Alain Lipietz (MdEP), Pedro Marset Carpos (MdEP), Lord Eric Avebury (House of Lords, UK), Harry Cohen (MP Labour, UK), Cynog Dafis (MP Plaid Cymru, Wales, UK), Lord Raymond Hylton (House of Lords, UK), Lord John Nicholas Rea (House of Lords, UK), Walid Jumblat (Vor­sitzender der Sozialisten, Liba­non), Rudi Vis (MP Labour, UK) Paul Flynn (MP Labour, UK), Máiréad Keane (Sinn Fein, Nordirland), Domenico Gallo (ehem. Se­nator, Italien), Livio Pepino (Magis­tra­tura Demo­cratica, Ita­lien), Xabier Arzalluz (Natio­na­listische Bas­kische Par­tei), Tony Benn (MP Labour, UK), Alain Calles (Präsident MRAP, Frank­reich), Gianna Nannini (Künst­lerin, Ita­lien), Geraldine Chaplin (Schau­spielerin, Spa­nien), David MacDowall (Schrift­stel­ler, UK), Dietrich Kittner (Ka­ba­rettist, Deutsch­land), Alice Walker (Schrift­stellerin, USA), Franca Rame (Autorin, Schau­spiele­rin, Ita­lien), Chris Kutschera (Schrift­steller, Frank­reich), Prof. Dr. Jean Ziegler (Na­tio­nal­rat und Pu­blizist, Schweiz), Prof. Dr. Angela Davis (University of Ca­li­fornia, San­ta Cruz, USA), Prof. Dr. Norman Paech (Völ­kerrecht), Prof. Dr. Werner Ruf (Völ­ker­recht, Deutsch­land), Prof. Dr. Gerhard Stuby (Politikwissenschaft, Deutsch­land), Hans Branscheidt (me­dico interna­tional, Deutsch­land)

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