Die Türkei und die "Kopenhagener Kriterien"?

Türkische Sicherheitskräfte gehen massiv gegen Studentinnen und Studenten vor, die kurdischen muttersprachlichen Unterricht an den Universitäten und den Schulen fordern.


Wenngleich das türkische Parlament im September 2001 Verfassungsänderungen beschlossen hat, die den Kurden einige Sprachrechte zugestehen - zumindest im nichtstaatlichen Bereich - so sind diese Änderungen doch keinesfalls hinreichend.Die zur praktischen Umsetzung der Verfassungsänderungen notwendigen Gesetz sind ohnehin noch nicht eingebracht.
Im Dezember 2001 hat daher in der Türkei eine friedliche Kampagne von kurdischen Studenten und Schülern begonnen mit dem Ziel, ihre Muttersprache an Universitäten und Schulen als Wahlfach einzuführen. Seitdem steigt die Zahl der Anträge auf Kurdisch als Unterrichtsfach an öffentlichen Schulen täglich, während die Kampagne immer weitere Teile der kurdischen Bevölkerung erfasst.
Die Behörden reagieren repressiv. Hunderte von Antragstellern wurden verhaftet. Ihnen drohen, wenn die Gerichte den Anträgen der Staatsanwälte folgen, Gefängnisstrafen bis zu zwölf Jahren. Der Wunsch der Menschen nach Unterricht in ihrer Muttersprache wird von der regierenden politischen Kaste diffamiert, die Menschen werden des Separatismus, ja Terrorismus geziehen. Der unitäre Staat scheint in Gefahr, das heilige Werk des großen Mustafa Kemal, der keine Kurden kannte und kennt, nicht einmal auf deren eigenem überlieferten Land, der Staat, der alle zu Türken macht.
Und in der Tat, dieser Staat ist in Gefahr. Er ist in Gefahr, weil er den Menschen nicht die Freiheit lässt, ihre Sprache zu pflegen und zu entwickeln, ihre Identität in einer sich rasch ändernden Welt zu definieren, und innerhalb des wenigen an eigener Kultur, was in einer solchen Welt noch bewahrt werden kann, eigenen unverwechselbaren Ausdruck dafür zu finden und mitzuteilen.
Sprache ist das Mittel, mit dem wir unser Verständnis, unsere Sicht der Umwelt, unser Verhältnis zur Welt kommunizieren; aus der Unterschiedlichkeit und Variabilität dieser Kommunikation wächst ein großer Teil unser Individualität und Identität. Die gemeinsame Sprache wiederum ist gemeinschaftsbildend, sie stiftet einen Teil der Identität des Volkes.
Die Weigerung der türkischen Behörden, muttersprachlichen Unterricht an Universitäten und Schulen einzuführen ist demnach gleichbedeutend mit der Weigerung, eine kurdische Identität anzuerkennen. Dies wiegt um so schwerer, als es sich um eine kurdische Identität in Kurdistan handelt, einem Land, das zwar als Staat nicht existiert, aber als sprachlicher und kultureller Raum den Kurden schon lange vor dem Erscheinen der Türken Heimat war. An dieser Weigerung, wenn sie denn fortgesetzt wird, wenn auf berechtigtes Begehren, vorgetragen mit friedlichen legalen Mitteln, nur mehr Repression folgt, daran wird der Staat zerbrechen. Er muss die ethnischen und religiösen Identitäten seiner Bürger anerkennen und ihnen Gelegenheit geben, diese zu bewahren und auszudrücken. Eine solche Anerkennung liegt in seinem ureigenen Interesse, wenn er seinen Fortbestand sichern will.
Die Sorge um den Zusammenhalt des Staates muss ihren Ausdruck finden in der Frage, was können wir für unsere Bürger tun, damit sie in unserem Land leben wollen; was können wir tun, damit die Bürger sich als eine Gesellschaft empfinden, die sich durch Gemeinsamkeiten definiert, damit sie den Staat als ein Gemeinwesen empfinden, das ihnen dient und sie schützt?
Wer sich frei fühlt, wem man seine Identität lässt, wen man in seinem Glauben respektiert, oder auch in seinem Nicht-Glauben, der hat keinen Grund zu rebellieren.
Die Türkei möchte Mitglied der Europäischen Union werden. Sie hat sich verpflichtet, deren politische, die sogenannten Kopenhagener, Kriterien zu erfüllen und ihren Bürgern die Freiheiten und Rechte zuzugestehen und diese auch zu schützen, die in allen anderen Ländern der Union längst selbstverständlich sind.
Dies schließt ein Recht auf Unterricht in der Muttersprache ein. Es ist bedauerlich, dass der für den EU-Beitritt zuständige türkische Minister, Vizepremier Yilmaz, hierzu nur Bedenken bis Ablehnung äußert. Damit bleibt weiterhin nicht erkennbar, wie sich die türkische Politik eine Umsetzung der Kopenhagener Kriterien vorstellt.
Europa aber, das selbst ein multi-nationales Gebilde ist, eine Vielvölkergemeinschaft unterschiedlichster Interessen, dieses Europa, in dem die Völker gelernt haben, sich in ihrer Andersartigkeit und Verschiedenheit zu achten, darf bei diesem Prozeß der Identitätsfindung in der Türkei nicht beiseite stehen. Es muss die Umsetzung seiner Kriterien fördern und die Kampagne der Kurden für Muttersprache stützen. Sie fordert ein elementares Recht der Menschen.