Offener Brief von medico international

März 1999

Im folgenden dokumentieren wir den offenen Brief von medico international e.V. an den "Beauftragten für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe", Gerd Poppe:


medico international e.V.
Obermainanlage 7
D-60314 Frankfurt/Main

An
den "Beauftragten für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe"
Herrn GERD POPPE
Auswärtiges Amt
BONN


OFFENER BRIEF

Sehr geehrter Herr Beauftragter GERD POPPE,

Sie kennen die Merkwürdigkeiten bei der Begegnung des Kurdenführers Abdullah Öcalan mit Europa? -: Ein von Interpol gesuchter Delinquent nähert sich den rechtsstaatlichen Metropolen aus eigenem Antrieb, erklärt sich bereit, ein prozessuales Tribunal zu akzeptieren, auch jedes europäische Gericht, wenn dieses nurwillens sei, nicht nur über ihn, sondern auch über die Verbrechen der Türkei an den Kurdinnen und Kurden zu verhandeln.
Bekanntlich mochte die europäische Wertegemeinschaft dem als "Terrorist" gesuchten Mann kein rechtsstaatliches Verfahren zur Verfügung stellen, sondern trennte sich ironischerweise wieder mit Macht von dem zuvor Verfolgten, der daraufhin mit automatischer Sicherheit in die Hände derjenigen geraten mußte, die ihm am allerwenigsten ein faires und unabhängigen Prozeß garantieren können: gemeint ist der Staatsgerichtshof der Türkei in Ankara.
Heute lese ich den gerade veröffentlichten Bericht des Europarats:
"Öcalan ist in schlechter psychischer Verfassung. Er dürfe weder Radio hören noch Zeitung lesen. Er befindet sich in absoluter Isolation. Es herrsche Sprechverbot mit seinen Wärtern." Von den Anwälten Öcalans hört man, daß sie bis heute unter den Augen der Polizei sechsmal zusammengeschlagen wurden. Ihre Namen finden sie auf öffentlich kursierenden Todeslisten. Mit ihrem Mandanten haben sie bis heute vielleicht insgesamt 2 Stunden unter Bewachung sprechen können. Dafür kursieren die vertraulichen Sätze zwischen Anwalt und Mandat bereits in der gesamten türkischen Presse. Die den Inhaftierten genauso vorverurteilt hat wie namhafte Politiker und Mitglieder der Regierung in ihren öffentlichen Äußerungen. Neuerdings verweigert man ihnen die Bootsfahrt zur Gefängnisinsel Imrali, indem diese zum militärischen Sperrgebiet erklärt wurde.
Mehr nicht dazu, obwohl es mehr zu sagen gäbe.
Erlauben Sie nur die eine Frage: Was haben Sie in Ihrer neugeschaffenen Amtseigenschaft bisher unternommen, um dieses Verfahren zu verhindern, weil dessen voraussehbarer Verlauf für Demokraten nicht akzeptabel sein kann? Bitte antworten Sie nicht einfach, daß Sie die Türkei um einen "fairen Prozeß" gebeten haben, - wie das der Minister Joseph Fischer bereits getan hat. Das geht nicht!-: ein Sondergerichtshof mit Militärrichtern kann prinzipiell kein "fair trial" bieten. Das werden Sie aus Ihrer Biographie ähnlich beurteilen müssen.
Um so dringlicher meine Frage an Sie: Was tun Sie, was tut Ihr Amt, was tut die Bundesregierung, um eine peinliche juristische Farce mit obendrein wahrscheinlich tödlichen Konsequenzen für einen Angeklagten zu verhindern, den Europa nicht beurteilen wollte und ihn deshalb an diejenigen auslieferte, die ihn umbringen werden. Ich warte auf Ihre Antwort.

Mit freundlichen Grüßen

Hans Branscheidt